1 Geschichte 4 Worte

"Ich kann nicht mehr!" Dieser letzte Satz meiner Mutter war nicht schockierend, empörend, verstörend oder traumatisierend. Er war an meine Schwester und mich gerichtet. Dieser Satz war klar, straight und ehrlich. Dieser Satz war lebendig und stolz. Das erste Mal schrieb meine Mutter etwas über sich selbst. Ich habe lange über ihren letzten kurzen Satz nachgedacht. Das erste Mal schrieb sie einem Gegenüber, uns , dass sie etwas nicht mehr konnte. Und dann machte ich mich auf die Suche. Wer oder was konnte meine Mutter in den Tod treiben? Wer konnte ihre Wortstärke verstummen lassen? Was ist ihr passiert? Warum hat sie sich nicht "dagegen" gewehrt? Wer oder was konnte ihre Lebendigkeit, ihre Lebenslust, ihre Schreiblust, ihre Lust auf große Gesellschaften vergiften? Bei einer Suche richtet man sich instinktiv aus. Ich wusste schon früh, woher ich kam. Ich wusste, wer meine Mutter war. Deshalb entwickelte sich wohl meine Zielstrebigkeit. Vor einiger Zeit schrieb Fatma Aydemir im Spiegel die Geschichte von Semra Ertan auf. 1982 kündigte die damals 25-jährige Dichterin und Arbeiterin ihren Suizid an - ihr Protest gegen Rassismus. Sie übergoss sich mit Benzin; dann zündete sie sich selbst an. Arbeiter und Kunst. Arbeiter und Poesie. Diese Kombination allein wird auch heute im Keim erstickt, nicht verlegt. Wer soll Gast-Arbeiter auf Erden sein, wenn Gäste zu den großen Gesellschaften gehören? Ich dachte immer, dass unheimlich intelligente und mächtige Menschen, unheimlich intelligente Ereignisse meine Mutter in den Tod getrieben haben. Das stellte sich schnell als Irrtum heraus. Eine fehlende Intelligenz, die sich durch alle Schichten einer Gesellschaft zog, konnte meine Mutter in den Tod treiben. Sie konnte nicht mehr. Sie konnte die Verblödung nicht mehr ertragen! Die spitzmündig vorgetragen heiteren Witze über Neger, über 3 Chinesen und natürlich über Kümmeltürken, gepaart mit den üblich verklemmt sexistischen Witzen, die Frauen zu Feinden erklärten. Intelligente hätten das sofort bemerkt. Die unveränderte Sprache einer Justiz, die Fehler kultivierte und es auch heute noch schafft, die Worte Güte und Arrest in einen Satz zu bauen. All das erstickte meine Mutter. Dummköpfe haben ihr gesagt, wer sie ist, was sie denkt, was sie meint, wen sie meint. Meine Mutter hat sich ihre Ziele tatsächlich von Dummköpfen wegnehmen lassen! Ein Ziel muss für nachfolgende Generationen also immer klar sein. Ein Ziel kann nur vorne liegen - nie hinten.