Reiß Dich jetzt mal zusammen!

Christa Wolf schrieb: "Das Vergangene ist nicht tot, es ist nicht einmal vergangen. Wir trennen es von uns ab und stellen uns fremd." ES beschreibt nicht nur Tote. ES beschreibt die Vergangenheit. Wir trennen uns ab und stellen uns fremd. Dieser Umstand ermöglicht ein Leben ohne Tränen! Der Preis ist immer ein Leben ohne ein einziges herzhaftes Lachen. Ich habe mir einen Dokumentarfilm aus dem Jahr 2014 angesehen. "Die Familie" wirkt lange, weil der Film eine trostlose Stille transportiert, die gute Nerven braucht. Ich glaube, dass es kein Material für Hinterbliebene ist. Es ist ein gutes Dokument für Menschen in vielfältigsten Fachberufen. Vorrangig geht es um Hinterbliebene derer, die von Mauerschützen an der ehemaligen innerdeutschen Grenze erschossen wurden. Die Abtrennung sagt uns: "Das ist doch Schnee von gestern. Der Film ist aus 2014. Das bringt die Toten nicht zurück. Es waren auch nur um die 100 Erschossene. Was sollen die hungernden Kinder in Afrika sagen, die ihre Eltern verlieren…" Diese Abtrennung hat Christa Wolf erkannt und beschrieben. Das Große ist, dass sie keine Wertung einbaut. Für mich geht es primär nicht um die Toten dieser Geschichte. Es geht darum, dass Familien nicht weinen dürfen. Die Mauerschützen erschossen nicht nur Menschen. Das Regime ließ diese Menschen verbrennen und verschwinden. Die Beerdigung und der Abschied wurden verhindert. Das Regime ordnete laut Akten absolutes Schweigen an und informierte die Familien erst Tage später über den Tod eines Verwandten. Kein Polizist, kein Sachbearbeiter gab den Familien einen Wink, einen kleinen Hinweis. Die meisten Menschen in der Dokumentation wirken extrem traumatisiert. Der Film hält das aus. Die meisten Menschen sehen nicht direkt in die Kamera. Ihre Blicke suchen etwas in Zeit und Raum. Für das damalige Regime waren sie keine Ahnungslosen. Sie waren Mitwisser und Mittäter. Ein Mann erzählt dem Filmteam, dass er mit seinem Bruder eine Motorradfahrt unternahm. Er erzählt in Fragmenten, dass beide einen falschen Weg erwischt hatten und plötzlich an einem Todesstreifen landeten. Sein Bruder fuhr sofort eine Schleife und wollte umkehren. Eine Flucht war nie ihre Idee. Der Mauerschütze feuerte seine Schüsse ab! Die Kugeln prasselten in den Rücken seines Bruders. Beide stürzten mit dem Motorrad in einen Graben. Der Mann besucht mit dem Filmteam den Ort des Geschehens. Er läuft auf und ab. Er tigert durch einen verwilderten Bereich; und immer wieder sagt er: "Wo ist denn die Stelle? Ich weiß das nicht mehr! Ich finde es nicht mehr. Warum hat man denn die Grenzhinweise hier komplett abgebaut?" Er weint nicht, weil die Strafe kein Ende findet. Sie wird nie ein Ende finden, weil es das Regime nicht mehr gibt, das ihn bestrafte! Wenn man Menschen die Illusionen nimmt, dann ist das Folter, die Tränen verbietet. Wenn man nicht weinen möchte, dann ist das der freie Wille. Wie tröstet man Menschen, die gefoltert wurden? Wie kommen Menschen in die Zukunft, die noch in der Vergangenheit stehen, wenn wir uns abtrennen?