Das Glück im Unglück sehen

Es gibt viele, viele Möglichkeiten, den harten Lockdown zu begehen. Man kann Masken-Spielchen in der Öffentlichkeit spielen, man kann Moralapostel für jene Spieler werden und endlich öffentlich maßregeln. Man kann gut und gründlich meckern. Man kann sich über Querdenker lustig machen, wie Jan Böhmermann, der mit seinen Ziegen-Gedichten bei Querdenkern Zuhause angekommen sein dürfte. Man kann Orakel spielen. Man kann Internetstatistiken auswendig lernen, sich an Toten und Infizierten ergötzen. Man kann die Arbeit von DEM Robert Koch heben, die Worte deutsches "Schutzgebiet" Afrika analysieren. Es beschreibt den Teil seiner Laufbahn, der deshalb düster zu nennen ist, weil er als Mediziner in Afrika etwas tat, das er in Deutschland nie hätte tun können. Er testete Medikamente an Menschen. Und er wusste um schwerste Nebenwirkungen. Man kann im Lockdown darüber reden oder denken, was passiert, wenn wir alles über Menschen wissen. Da Menschen nichts, überhaupt nichts über das Coronavirus wissen, die Maßnahmen Maske und Abstand kennen, nur auf einen Impfstoff warten können, der zarte Nebenwirkungen hat, denke ich, dass sich alle Menschen fallen lassen sollten. Die Urangst der Deutschen. Kontrollverlust. Nichts machen. Stille Nacht. Geduldig warten, bis die reinen, die echten, die eigenen Gedanken kommen. Stille. Für die meisten Menschen wäre ein 12-monatiger Internet-Lockdown schlimmer als Corona. Die Welt wüsste nicht mehr, was Deutschland so plant. Was ein Spaß. Der ultimative Trustfall einer ganzen Nation. Wenn stille, ruhende Menschen bis ganz nach unten gefahren sind, sind sie zunächst angekommen. Was sehen sie dort? Was wächst dort heran? Ich habe heute darüber nachgedacht, was wohlhabende Menschen in den 12 Monaten, unbemerkt, unerkannt, unterbewusst gelernt haben. Sie kennen heute die Einschränkungen, die Arbeiter und Angestellte ein Leben lang haben. Marcel Reich Ranicki sagte über Geld: "Es ist besser in einem Taxi zu weinen - als in einem Bus weinen zu müssen." Der Lerneffekt ist also viel größer, wenn man in einem Taxi weinen kann. Arbeiter buchen keine Direktflüge. Sie haben nie einen kleinen Kaufrausch auf einem Weihnachtsmarkt. Ein kandierter Apfel, eine Tüte gebrannte Mandeln, ein Stäbchen Zuckerwatte, eine Weihnachtskugel aus Meißen und ein Paar selbstgestrickte Handschuhe aus einer Brandenburger Manufaktur lagen nie im Shoppingkorb einer Arbeiterin. Wie oft ging ein Handwerker vor Corona ins Kino, weil er Zeit und Lust dazu hatte? Eine Arbeiterin kaufte sich nie Tickets für die Berlinale, um sozialkritische Filme aus anderen Ländern zu sehen. Wie viele Rentner, die Grundsicherung erhalten, gingen vor Corona ins Theater, in die Oper? Wie viele Krankenpflegerinnen planten je den Besuch in der Mailänder Scala? Wie viele Putzfrauen freuten sich auf die Bayreuther Festspiele? Ist der afrikanische Zeitungsbote seit Mittwoch am Boden zerstört, weil er seinen geliebten Hugo Boss Anzug nicht in die Reinigung bringen kann, den er an Weihnachten unbedingt tragen wollte? Als Arbeiterführerin müsste ich sagen: "2020 war keineswegs ein beschissenes Jahr. Ihr konntet, durch Geld gesichert, ein Stück unseres täglichen Lebens leben. Ihr seid stärker geworden. Seht Euch nur an! Ihr seid authentischer geworden. Ihr seid viel stabiler geworden." Das Glück im Unglück findet man nicht mit Besserwissern. Man findet es nicht mit Konkurrenten. Das Jahr 2020 hat bewiesen, dass Unglück allein getragen werden muss, denn Corona trennt uns. Man findet sein Glück immer allein. Allein dafür lohnt sich der Trustfall. Und danach reloaden alle Menschen das Beste, das sie geben können.