Blinde Flecken

In der Trauer spricht man von "blinden Flecken", wenn zum Beispiel eine ehemalige Lebensgefährtin vom Tod ihres Ex-Partners erfährt und vor allem sich selbst vorgaukelt, dass sie bis zum Ende die Lebenspartnerin war. Der "blinde Fleck" ist in Suizidfällen ein seelischer Schutz. Nach und nach lässt man Kritik und Selbstkritik zu. Ein Lehrer wird in der Nähe von Paris geköpft. Die Welt ist nicht mehr im Modus "Je suis Charlie". Samuel wird enthauptet. Herr Paty. Der Lehrer. Auf offener Straße wird er hingerichtet. Nach seinem Tod wird ihm der Kopf abgetrennt. Der Täter ist mir egal. Sein ganzes Leben ist mir egal. Seine Mitgliedschaften - in Vereinen - in Organisationen - in Bücher-Clubs - sie interessieren mich nicht. Der Name dieses Mannes ist uninteressant. Er wurde nach seiner Tat erschossen. Das ist ein kleines Glück im Unglück für die Familie, für die Kollegen, für seine Schüler. Samuel Paty liegt in einem Holzsarg. Der ist trapezförmig und steht auf einem Metallgestell. Präsident Emmanuel Macron erklärt Samuel zum Helden - post mortem. Eine Schule der westlichen Welt ist also Kriegsschauplatz geworden. Kevin Kühnert schreibt im Spiegel: "Die politische Linke sollte ihr Schweigen beenden." Er beschreibt "blinde Flecken". Er wirkt fast komisch. Er beschreibt einen Mord. Samuel Paty wurde öffentlich hingerichtet. Ein Gesetz, das mir egal ist, war wohl auf der Seite des Vollstreckers. Charlie Hebdo wurde hingerichtet. Sein Verlag wurde in Schutt und Asche gelegt. Ein Gesetz, das mir egal ist, war wohl auf der Seite der Vollstrecker. Kevin Kühnert glaubt an eine Linke. Was meint er damit? Meint er, dass europäische Linke den Islam fördern, finanzieren, sogar Schulbücher finanzieren, die den Judenhass über Generationen erhalten werden? Meint er etwa die Justizministerin der SPD, die Gewalt gegen Kinder hart bestrafen will, aber keine effektiven Zahlen über Kinderehen in Deutschland vorweisen kann? Kevin Kühnert schreibt im Jahr 2020 über einen Kampf? Wer kämpft wo und wogegen? Es ist schon lächerlich, dass Herr Kühnert ernsthaft glaubt, ausschließlich Rassisten sind gegen Enthauptungen in Paris. Wo lebe ich? Ich darf in diesem Land nicht nur meine Meinung äußern. Ich darf sogar jeden Menschen ordentlich beschimpfen - nach allen stilvollen Regeln der Schimpfkunst. In diesem Land, in diesem Europa gibt es keine Todesstrafe! Es gibt keine Hinrichtungen! Samuel, der Lehrer aus Frankreich, wurde auf offener Straße geköpft. Eine Klinge trennte seinen Kopf ab. Sein zerstörter Körper wurde auf Twitter ausgestellt - und Kevin Kühnert verteilt im Spiegel Brillen an die Linke. Mir wird schlecht!