Wer wir mal waren

Ich fand es großartig, dass Anna Wintour - unangefochtene Chefin der Vogue, Kennerin der Modewelt, Königin des guten Geschmacks - die Vizepräsidentin der United States of America auf ihre Titelseite brachte. Kamala Harris ist nicht die First Lady. Sie ist nicht die Präsidentin. Sie ist Vizepräsidentin. Und obgleich Anna Wintour privat niemals Turnschuhe in der Öffentlichkeit trägt - als kleine unwichtige Chefredakteurin - besitzt sie die Größe, die Noblesse, den Menschen zu sagen: "Schaut her. Die neue Vizepräsidentin sieht aus wie Annalena Baerbock from Germany." Und damit erfährt Frau Baerbock definitiv eine Aufwertung. Auf dem Titelblatt der Vogue kann man deutlich lesen: "BY THE PEOPLE FOR THE PEOPLE. THE UNITED STATES OF FASHION." Es geht um das Auge der Anna Wintour. Es geht bei der Vogue nicht um die Vizepräsidentin. Oder wurde der Titel von einem US-Ministerium angeordnet? Ein unverfälscht schlichter Stil führt ausgerechnet in deutschen Medien zu einer riesigen Welle, nicht etwa, weil Mrs. Vice Stoffturnschuhe trägt. Angeblich ist sie auf dem Foto zu weiß. WOW. Das nenne ich verschraubt und spinös. Das Foto ist nicht Bling-Bling-Victoria Secret. Mrs. Harris ist kein Model und sie tritt hoffentlich nicht an, um Wähler zu blenden. Sie, eine Vizepräsidentin, hat es dank Anna Wintour auf den Titel der Vogue geschafft! Das klingt nicht weiß, weil der Fotograf nicht weiß ist. Mir gefällt dieses Foto. Die Kanzlerin, seit Jahren in Romika Schuhen unterwegs, wird weltweit geliebt und verehrt. Die Farben grün und rosa stehen auch für Weiblichkeit, für Romantik und für DIY. Ich erkenne, dass die digitale Welt, die analoge Welt abschaffen möchte. Die Vogue wird zum Schmuddelblatt, weil Kamala Harris auf dem Titel ist. Das ist ganz großes Tennis. Schlimmer wiegt die Tatsache, dass es diese Unart krankhafter online-Empörung, in der Hochphase einer Pandemie, auf die Seiten der deutschen Leitmedien schafft. Ich würde mir nicht den Arm abhacken, um auf den Titel der Vogue zu kommen. Allerdings würde ich der Chefredakteurin danken, sollte sie meinen schlechten Look, der nichts in der Modewelt gewinnen kann, auf ihren Titel bringt. Als Vizepräsidentin der USA würde ich nicht für die Titelseite der Vogue, schon überhaupt nicht im Turnschuhlook, antreten. Vielleicht also hat Kamala Harris im Allgemeinen keinen guten Geschmack. Allerdings ist es ihr Geschmack. Nur darum geht es - leider nicht in den Leitmedien. Der Netzmob geht bis zu den äußersten Grenzen, bis zu den äußersten Rändern. Das ist degutant.