Der Rückzug ins Vermissen

Es ist gut, wenn Menschen sich zurückziehen. Im Rückzug - es ist ein menschlicher Zug - kann man ruhen, denken und vermissen. Man kann die Toten vermissen. Man kann die Zeit vermissen, die man mit ihnen zu Lebzeiten verbrachte. Es ist einer der schönsten menschlichen Züge. Der Rückzug. Man fährt nicht wirklich zurück. Im Gegenteil. Irgendwie bleibt man auf einem Bahnhof stehen. Man nimmt nicht mehr jeden Zug, der zum Ballermann fährt, der durch politisch groteske Szenen fährt. Man wartet auf dem Bahnhof auf seinen guten Zug; man setzt sich auf eine Bank und schaut, vermisst die Toten - die Zeit mit ihnen. Kleine Filmfetzen werden unterbrochen von Nachrichten über den Machtapparat in Moskau, der eindeutige Botschaften durch die Vergiftung von Herrn Nawalnyj sendet: "Kein Mensch ist sicher in Moskau." Im Rückzug muss man fast lachen, denn die vielen Zeugen, die den 11. September 2001 in Amerika ganz anders wahrgenommen hatten, tauchen als zufällige Tote auf, so, als hätte Amerika keinen kategorischen Machtapparat. John F. Kennedy ist tot, seine Akte wurde nie geöffnet und so konnte ein Täter um die Ecke schießen. Herr Nawalnyj, die berühmteste Opposition aus Russland, liegt im Koma. In der Charité wird er bewacht. "Gerade wird die Integrität der Ärzte in der Charité angegriffen.", schreibt die Süddeutsche Zeitung. Die Affäre um falsche Abrechnungen in der Charité hatte die weißen Kittel leider schon vor Herrn Nawalnyj befleckt. Und hat die SPD direkt mit Herrn Schröder Kontakt aufgenommen? Saß er nicht mit dem gefährlichsten Mann der Welt lustig in der Sauna - natürlich in seiner Eigenschaft als der Genosse, der bei Gazprom…Vielleicht ist die Geschichte um Herrn Nawalnyj eine reine Verschwörungstheorie? Denn wer kann in Deutschland schon ernsthaft schreiben: "In ganz Russland ist kein Mensch mehr sicher." ? Die Firma Siemens und Herr Schröder haben sicher nichts zu befürchten. Auf dem Bahnhof vermisst man die Toten. Loriot wird zum Beispiel vermisst: "Sind das Deine Bekloppten?…" Ich vermisse die Menschen, die überzeugten, sich also über sich selbst identifizierten; nicht jene, die über eine symbiotische Fremdidentifikation gefallen wollten. Vielleicht irrt sich Carolin Emcke. Vielleicht hassen Menschen nicht vorrangig. Vielleicht vermissen sie etwas.