Entehrte Frauen

Am Morgen des 5. Mai 1980 will ein Mädchen nicht in die Schule gehen. Die Mutter lässt ihre Tochter gewähren; und so erlaubt sie ihr auch den Besuch bei einer Freundin. Das Mädchen läuft einem Sexualstraftäter direkt in die Hände, der sie in seine Wohnung führt. Dort hält er es einige Stunden fest. Später wird er behaupten, dass sie Geld vom ihm erpressen wollte, dass sie ihm drohte; so, als hätte er eine alte Bekannte getroffen, die seine Not ausnutzen wollte. Er erdrosselt das Mädchen mit einer Strumpfhose. Er legt den gefesselten, toten Körper in einen Karton und geht zum Ufer eines Kanals. In einer Mulde legt er sie ab. Später legt er die Leiche in ein Loch. Dann bedeckt er das tote Mädchen mit Erde. Am Abend wird er in einer Gaststätte festgenommen. Er hatte sich einer guten Freundin anvertraut. Das tote Mädchen ist 7 Jahre alt. Ihr Name ist Anna Bachmeier. Ihre Mutter, Marianne Bachmeier, ist keine Akademikerin. Sie betreibt eine Szenekneipe. Im Alter von 16 Jahren bekommt sie ihr erstes Kind. Im Alter von 18 Jahren bekommt sie ihr zweites Kind. Vor der Entbindung des zweiten Kindes wird Marianne Bachmeier vergewaltigt. Beide Kinder gibt sie zur Adoption frei. Im Alter von 22 Jahren bringt sie Anna zur Welt, die bei ihr aufwächst. Am 6. März 1981 ist Marianne Bachmeier 31 Jahre alt. Am Landgericht Lübeck läuft der Strafprozess. Der Täter ist wegen Mordes angeklagt. Der dritte Verhandlungstag bricht an und Marianne Bachmeier schmuggelt unbemerkt eine Waffe in den Gerichtssaal. Sie zielt auf den Rücken des Täters und feuert insgesamt acht Schüsse ab. Davon treffen ihn sieben Kugeln, die ihn sofort töten. Marianne Bachmeier wird vor der Schwurgerichtskammer des Landgerichtes Lübeck wegen Mordes angeklagt. Am 2. März 1983 wird sie, wegen Totschlags und unerlaubten Waffenbesitzes, zu sechs Jahren Haft verurteilt. Deutschland nimmt es ihr übel, dass sie 250000 D-Mark vom STERN annimmt, der ihre Geschichte einkauft. Nach ihrer Haftentlassung verlässt sie das Kalte, das sie Heimat nennen soll. All das klingt nach einer unehrenwerten Mutter. Eine wie auch immer gestaltete Trauer im Gefängnis scheint eine gerechte Strafe. Selbstjustiz! Selbstjustiz darf keine Schule machen. Die begeisterten Mütter kippen spätestens bei der Adoptionsgeschichte. Das Angebot vom Stern skizziert eine geldgeile Mutter, die dem Sensenmann die Adoptionspapiere unterschrieb. So eine Frau muss entehrt werden. Nur so verschwinden die Kinder aus dem kollektiven Gedächtnis. Anna wäre heute 49 Jahre alt. In Zeitlupe fliegen sieben Kugeln in den Rücken des Straftäters. Die achte Kugel gehört nicht in diese Geschichte. Fast schon eine göttliche Botschaft. Die sieben Schöpfungstage. Die sieben Weltreligionen. Die Siebenzahl der Sakramente. Die sieben Todsünden. Die sieben Siegel der Buchrolle. Das tote 7-jährige Mädchen. Ich lernte Marianne Bachmeier in der Sendung Nachtcafé (SWR) kennen. Ich erkannte sie nicht sofort. Wir saßen nebeneinander in der Maske. Sie hatte diese rundum positionierte Power, die sie tarnte und die milde von allen Seiten strömte. Man spürte, dass die Bündelung schreckliche Auswirkungen haben kann. Sie war ein astrologischer Bilderbuch-Zwilling, dem man das letzte Hemd wegnehmen darf - aber niemals das Leben der Tochter. Nach der Krebsdiagnose ließ sie ihr Sterben dokumentieren. Das war das letzte Hemd. Ich hatte den Eindruck, dass sie sich den Wölfen zum Fraß vorwarf, als wolle sie sagen: "Bitte! Fleddert mich!" Marianne Bachmeier starb 1996. Sie war 46 Jahre alt.
Sie wusste um ihre Tat; denn sie wollte, dass der Sexualstraftäter keine weiteren Lügen über ihr Kind erzählt. Sie wollte ihr totes Kind beschützen! Für mich ist sie eine sehr ehrenwerte Frau.