Erinnerungen

Meine Arbeit wird angereichert durch Erinnerungen. Reichtum bedeutet, dass man sich erinnern kann. Ein gesunder Geist ist also in jeder Zeit unabdingbar, weil auch junge Menschen und Kinder sterben. Menschen erinnern Begegnungen, Reisen, sie lesen Gedichte, sie singen Lieder. Menschen können Reden halten, weil sie sich erinnern. Trauerfeiern sind geballte, konzentrierte und hochinteressante Räume, die auch politisch sein können. Vielleicht sind es sogar DIE Thinktanks einer Gesellschaft. Durch die Erinnerungen werden Menschen stark - um weitermachen zu können - um sich verwandeln zu können. Eltern, die ihre Kinder verlieren, müssen sich verwandeln. Ehefrauen, die ihre Ehepartner oder Ehepartnerinnen verlieren, müssen sich verwandeln. Etwas entpuppt sich immer. Mal leise, mal laut. "Draußen", im Leben, ist es für mich momentan schwer, Menschen wie Frau Baerbock zuzuhören, weil sie nicht aus einer eigenen Erinnerung spricht. Sie wirkt, als hätte sie ihren Faden stets verloren, als würde sie einen fremden Text ablesen. Als Sawsan Chebli von der SPD in den Medien angegriffen wurde, weil sie eine Rolex trägt, merkte ich, dass sie ihre Geschichte vergessen hat. Ihre bekannte und lesbare Geschichte belegt, dass die Rolex ihre persönliche, offenkundig leise Oscarverleihung war. Jede Frau hat eine Geschichte, die in ihrem Geist schlummert; und diese Geschichten sollten Frauen nicht erst bei einer Trauerfeier erlösen. Tina Turner hat aus ihrer Geschichte eine Raketenkraft gemacht. Sie wollte keine Soulsängerin sein; und so ist sie eine Rocklegende. Sie ist, trotz der bekannten Rückschläge, immer wieder nach vorne gegangen. Nun muss nicht jede Frau berühmt werden. Nicht jede Frau muss in die Politik gehen. Nicht jede Frau muss eine Rolex kaufen. Ich denke aber doch, dass jede Frau stolz und aufrichtig durch ihr Leben gehen sollte und darf, wenn sie sich nur erinnert. Auch hier braucht es keine großen Werke, keine enzyklopädischen Geschichtsbände. Die Essenz reicht für eine sichere Platzierung. Das kann auch ein Mantra werden. Ich nenne ein Beispiel aus meinem Leben. Einige Standesämter brauchen 3 Monate für die Dokumentation der Sterbeurkunden. Die Rentenversicherung braucht dann nicht selten weitere 3 Monate für die Berechnung der Renten. Das bedroht die Existenz der Frauen. Dieses Szenario war in diesem Land immer politisch. Für mich ist das politischer Zündstoff. Viele Frauen haben plötzlich große Angst. Sie beugen sich: "Wenn ich meinen Mund aufmache, dann rächt sich womöglich ein Sachbearbeiter." Die eigene Geschichte ist plötzlich in Vergessenheit geraten! Frauen können sich nicht positionieren. Was weiß ich selbst? Falsche Politik hat meiner Großmutter ALLES weggenommen; im Alter von 14 Jahren und im Alter von 40 Jahren. Der Gesellschaftskrieg, Nachwirkungen der Weltkriege, war nicht urplötzlich demokratisch oder gar blumig-lyrisch. Er ist frauenfeindlich. Er ist feindlich. Er ist giftig und vergiftet. Falsche Politik nahm meiner Großmutter Menschen weg. Das konnte Politik, weil meine Großmutter, also eine Frau, keine Rechte hatte, keine Stimme hatte. Im Alter von 75 Jahren hatte sie keine Tochter und keinen Ehemann mehr. Ihren eigenen Geist konnte ihr niemand nehmen. Den gab sie, kurz vor ihrem Tod, höchstselbst frei. Nun gibt es Besserwisser und Besserwisserinnen, Hellseherinnen und Hellseher, die meine persönliche Geschichte verändern und verklumpen möchten. Diese Menschen denken nicht. Sie glauben nur und laufen programmatisch aus. Sie schleudern und sie klappern, wie ein labiler Wäscheständer. Kein Mensch, keine Institution, kein Gericht, keine Instanz, kein Regime, keine Bank, kein Geld der Welt könnte meinen Namen anpissen. Mein Geist bleibt klar und unbeugsam! Das ist meine Essenz. Ich möchte also Frauen sehen, die erhobenen Hauptes durch die Straßen gehen. Ich möchte die Frau Cheblis mit Oscar am Arm sehen. Ich möchte in Berlin die aufrichtigen und stolzen Girls from the Hood sehen. Eine spätere Erinnerung muss heute Realität sein.