Trost

Trost meint nicht, wie viele Zyniker und Ironiker meinen, dass man selbst weinen muss, dass man die Stimme verstellen muss, dass man seine Mimik verzerren muss. Das wäre nur eine bemitleidenswerte Ich-Verabschiedung, die einen Menschen im Kummer nicht nur allein im Regen lässt; dieser Mensch wird obendrauf abgestoßen, wie eine Aktie, die keinen Wert mehr hat. Die Pandemie macht enorm viele Menschen traurig, weil der wirtschaftliche Tod, auch der wirtschaftliche Tod eines Freundes, eines Nachbarn, einen gesellschaftlichen Boden aufreißt. Der wirtschaftliche Tod macht auch wütend, weil viele Menschen abstürzen, während andere lustig ins Weltall fliegen. Ein Mensch, der tröstende Wirkung hat, ist Barack Obama. Auf Instagram ist er in einer privaten Situation zu sehen. Er läuft über einen Rasen - wahrscheinlich ist es ein Golfplatz - dann sieht er zwei staunende Mädchen am Zaun. Ohne Maske geht er auf die beiden zu und schüttelt ihre Hand: "Hey. How are you?" Er zuckt nicht demonstrativ die Hand weg, wie die Kanzlerin. Er hält keine Vorträge über die Pandemie und über die Corona-Gefahren. Herr Söder nimmt derartig humane Gesten zum Anlass, in einer überaus extremen Zeit, Bußgelder zu erhöhen, Strafen zu generieren. Er erinnert mich an eine deutsche Fluggesellschaft, die von ihren Mitarbeitern AIDS-Tests verlangte. Die Gay-Community ging mit Recht auf die Barrikaden, denn auch hier ging es um Datenerhebungen, die, wie in der Pandemie, missbraucht wurden. Ein Wachmann bei Gericht flirtete per WhatsApp mit einer Rechtsanwältin, der tatsächlich glaubte, dass eine Rechtsanwältin sich in die städtischen Listen eines Gerichtes einträgt, um den Bachelor zu finden. Ein weiterer Riss also im Fundament, auf dem Menschen nicht mehr sicher stehen können. Die Pandemie ist nun seit gut 6 Monaten Thema. Von Januar bis März ohne Maske. In meinem Beruf kann sich kein Mensch schützen, weil der vertrauliche Teil der Leichenschauscheine in einen Umschlag gelegt wird, den Fremde nicht öffnen dürfen. Man kann Menschen in der Pandemie nicht auch noch zumuten den Apparat aufzuräumen. Dass muss der Apparat schon bitte selbst übernehmen - möglichst schnell. In einer Demokratie, die sich in einer Katastrophe befindet, braucht es Menschen wie Barack Obama. Im Zeitalter des Internets haben Menschen bereits verlernt für einen Empfänger zu kommunizieren. Mit der Pandemie entfernen sich Menschen körperlich. Sie sollen einen Abstand einhalten. Die sozialen Sensoren werden unterbrochen. Wir verlernen; die Umarmung, den Wangenkuss, den Handschlag. Durch den großen Abstand entfallen tröstende Formeln: "Oh. Sie tragen aber ein tolles Parfum." Deutschland fordert Bußgelder, Strafen oder Steuern. Hat Deutschland auch unikate Ideen für die Zukunft? Natürlich sind Menschen wütend. Das ist Teil jeder Trauerform. Das bisherige Leben gibt es nicht mehr. Das ist, wie bei einem Trauerfall, lange nicht greifbar und doch mit enormen Verlusten verbunden, die täglich wahrer werden. Eine Regierung, die die Pandemie selbst verschlafen hat, hätte nicht ansatzweise das demokratische Recht, Strafen zu verhängen. Diese Regierung sollte den maßvollen Leisegang antreten. In einer Diktatur dürfte ich das nicht schreiben, denn ein Diktator ist kein handelnder Vertreter. Er bestimmt eine Wahrheit und er erwartet, dass diese eine Wahrheit in einer ständigen Wiederholungsschleife nachgeplappert wird. Trost ist immer individuell. In einer Diktatur hätte Trost viel zu demokratische Strukturen. Gehen Sie zum Arzt. Bleiben Sie im Bett. Gehen Sie in eine Heilanstalt. Wenn sie nicht…dann lassen wir sie einweisen. Stayhome. Bleib gesund. Halte Abstand. Masken sind Bürgerpflicht. Diese Fragmente sind nicht tröstlich. Diese Fragmente trainieren einen folgsamen Bürger, der Täter schnell ausmachen soll. Die Distanz, in seiner bereits gebauten Internetblase, macht ihn zum guten Staatsdiener, gleichermaßen unempathisch für die Nöte seiner Mitmenschen.