Empathie

Mit einem Virus, das nun alle Menschen erschreckt, lernen Menschen zunächst sich selbst kennen, wenn sie sich selbst - und nicht die anderen beobachten. Wie sich Menschen jetzt fühlen, fühlen sich Trauernde unmittelbar nach einem Todesfall. Unsicher, wund, verletzt, ängstlich, bedroht. Dieses Gefühl bleibt 1 Jahr konstant, mildert sich dann in den folgenden 10 Jahren. Ich bemühe mich täglich, die Aufregung um das Virus zu verstehen. Ich kann sie aber nicht teilen, weil ich diese Aufregung schlicht nicht empfinde. Kein Mensch kann ernsthaft bestreiten, dass die Aggressionen, die in den letzten Jahren die Welt beherrschten, zu Depressionen im eigenen Land führten. Kein Mensch kann ernsthaft behaupten, dass wir aus heiterem Himmel von einem Virus getroffen wurden. Es gab immer auch Vorahnungen, Befürchtungen, eine auch zur Schau gestellte Scham: "Die armen Menschen da draußen - wir Reichen hier drinnen." Wir waren schon lange keine reichen, satten Menschen mehr, die großzügige Komplimente machten, die sich respektierten, die sich herrschaftlich bewirteten, sich einluden. Kaum ein reicher Mensch konnte noch schwärmen und formulieren. Reiche Frauen konnten keine Komplimente annehmen, weil sie gar nicht mehr wussten, wie das geht, das Fühlen, das Nehmen. Nach dem 11. September hätten Player der Börsen erkennen müssen, wie krank und gestört sie sind, da sie auf CRASH wetteten. Diesen Gewinnern öffnete man alle Türen. Man gab ihnen Plätze in den Kirchen der Welt und in den Regierungshäusern der Welt. Von dort kamen sie in jedes Wohnzimmer. Ihre vielen Ableger verenden heute nur noch als Wühltisch-Trader. Sie sind kleine Aktienpakete, billige Rohstoffe der wenigen Superhirne. Reiche Regierende haben nicht einmal mehr ihren eigenen Unsinn erkannt; denn welcher reiche Mensch bucht eine 1. Klasse Krankenversicherung - mit Einzelzimmer und Chefarztbehandlung - wenn das Gesundheitssystem abgebaut wird. Kein Mensch kann bestreiten, dass das Bild der Krankenschwestern bewusst vergiftet wurde. Kein Politiker kann bestreiten, dass ein Mediziner - ausgerechnet in Berlin - unter Wert arbeiten musste. Und selbst jetzt, da ein Virus die Erste Welt betreten hat, Millionen Menschen gekündigt wurden, auf Kurzarbeit gesetzt wurden, steigen die Aktien an der Wallstreet. Menschen klammern an ihrer Gardine und beten krampfhaft: "Bitte, lieber Gott, mach, dass danach alles so bleibt, wie es vorher war." Die Krätze bricht in einem Flüchtlingslager aus und kein Mensch kann bestreiten, dass es ebenso egal ist, wie der Krieg im Irak, wie der Krieg in Afghanistan, wie der Krieg in Syrien. Politiker befürchten jenen Moment, da es auch nur eine kühne Journalistin wagen könnte, die rote Linie zu überschreiben: "Nun, in dieser außerordentlichen Situation, sollte es möglich sein, die Diäten drastisch zu senken, den Apparat zu verschlanken, um durch die Krise zu kommen." Wenn man abrutscht, muss man warten, bis man wirklich unten angekommen ist, um Verletzungen zu vermeiden. Und jetzt, da ein Herzklopfen zu hören ist, ein stetes Pochen in der Schläfe den Kreislauf senkt, wissen Menschen, was Trauernde 10 Jahre aushalten müssen - und trotzdem arbeiten gehen, lächeln, bekunden, dass es ihnen gut geht, da es niemanden gibt, der ihnen je zuhören wollte. Und nun haben Menschen endlich die Möglichkeit, sich selbst zu pflegen, sich zu entgiften, um in der Zukunft zu wissen, wie sich Empathie überhaupt anfühlt!