Diskretion ist ein Schwergewicht

Ich habe einen Termin mit einem Botschafter Frankreichs. Eine Urne muss für den Transport nach Frankreich versiegelt werden. Die Diskretion wird mit Wachs besiegelt; und so kann kein Mensch, einschließlich meiner Person, Heimliches, Betrügerisches, Vertauschtes der Urne beigeben. Der Wachmann der Botschaft öffnet mir die Tür. Er begrüßt mich, dabei sieht er mich an - für Leichtgewichte ein schon zu schweres Ereignis: "Bonjour Madame." Ich bekunde meinen Termin. Meine Kundin, die Hinterbliebene, wartet seit Tagen nervös auf die Zusage für den privaten Transport nach Frankreich. Monsieur Eric muss eine Genehmigung dafür erteilen: "Dokumente und Siegelung sind in circa 40 Minuten fertig.", sagt er. Ich suche ein Café Unter den Linden. Starbucks ist mir zu duzig. Der eigene Vorname wird, wie in der Grundschule, auf die Becher geschrieben. Ein Donatshop - zwischen zwei Souvenirläden - passt nicht zu meiner Stimmung. Die Leichtgewichte in Werbung, in Persona, in Medien unterfordern mich über die Maße mit ihrer mittlerweile stumpf schnatternden Oberfläche. Ich sehe auf die gegenüberliegende Straßenseite. Das Adlon… Ich wähle den Nebeneingang. Zufällig lande ich aber im Zigarrengeschäft des Hauses. Ein aufgeräumter Mensch kommt mir entgegen: "Guten Tag." Ich habe mich in der Tür geirrt, will ich doch ins Café. Der Geschäftsinhaber hilft mir. Natürlich hilft er mir. Wir kommen kurz ins Gespräch. Die Zigarren liegen schwer in Humidoren, die Zigarillos machen einen eleganten Eindruck. Sie warten geduldig in dezent beleuchteten Vitrinen. "Es gibt im oberen Geschoss die Zigarrenlounge des Adlon.", sagt er. Ob auch Frauen diese als männlich geprägte Domäne besuchen? Mit einem Hauch Irritation, als käme ich aus einer anderen Zeit, sagt er lächelnd: "Ja, aber natürlich. Selbstverständlich." Im Geist sehe ich mich mit Zino Davidoff in einem schweren Sessel sitzend und schweigend. Mein Opa besucht mich plötzlich im Sinn. Schach würde er spielen und eine gestopfte Pfeife, wie eine Friedenspfeife, rauchen. Mir fällt auf, dass niemand unser Gespräch unterbricht. Niemand stört uns. Niemand hat nur mal kurz 'ne Frage. Die Magie der Schwere hat die Leichtigkeit des Seins erfunden und getragen. Der aufgeräumte Inhaber zeigt mir den Weg und begleitet mich ins klar beleuchtete Café. Wir verabschieden uns - wünschen uns einen schönen Tag. Im Café bestelle ich einen Americano und einen berliner Marmorkuchen. Ich frage nach einer Möglichkeit meine Hände waschen zu können. "Ich zeige Ihnen den Weg zu den Toiletten." Ein junger Mann in Hausuniform führt mich in die Lobby, zeigt mir dann die Richtung. Diskretion ist ein Schwergewicht mit bedeutender Stimme und leichten Gesten. Die Lobby muss Tonnen wiegen. Der schwere Boden und der schwere Leuchter, die schweren Sessel und die schwer satte Akustik breiten sich ganz leicht aus. Die Gäste schweben. Eine satte Marmortreppe, die man schreiten muss, führt zu den Toilettenräumen. Eine Windrose im Marmormassiv zeigt nicht nur die Himmelsrichtungen. Sie zeigt federleicht auf flauschig weiche Handtücher. Die dunklen Vollholztüren mit Silberknauf machen aus jeder Kabine ein Abteil, das Körpergeräusche abschirmt. Auf dem Weg zurück ins Café touchiere ich einen echten Berliner. Albert Krigler war mausearm als er seine Geliebte traf. Und so kreierte er ihr einen eigenen Duft. Er war Chemiker. Er ging nach Moskau. Er wurde Parfümeur. Sein Kleidungsstil hat die Kollektionen von Paul Harnden inspiriert - da bin ich sicher. Albert Kriglers Botschafter sprühen die Duftnote von John-F. Kennedy auf eine schöne Karte. Dann sprühen sie die Duftnote von Jackie Kennedy auf eine weitere Karte. Sie reichen mir beide Karten und dann warten sie geduldig. Unfreiwillig muss ich lachen und strahlen. Beide sehe ich nun leibhaftig und in Bewegung. Unaufdringliche Schwergewichte duften leicht blumig und sportlich kernig. Ich drücke und tupfe beide Karten an meinen Hals. Die Kriglers müssen lachen. Americano und Marmorkuchen warten auf mich. Ich muss Albert Krigler das Versprechen abgeben, dass ich ihn ein zweites Mal besuchen werde. Mit Jackie und John am Hals fühle ich mich wie ein neuer Mensch. Mir fällt auf, dass ausgebildete Handwerker schwere und diskrete Autarke sind - mit ausgebildeten, fortgebildeten Gehirnen. Das Adlon stellt sicher auch keine Fitnesstrainer ein, die sich zum "Löffel 1" machen, sich selbst für fremde Zwecke missbrauchen und fremde Räume ausforschen. Minchen&Trinchen machen dort sicher kein zweites Mal Tonaufnahmen oder Fotos von Schwergewichten. Sie müssten gehen und bekämen ein dauerhaftes Hausverbot. Ich beiße in meinen Marmorkuchen, nippe an meinem Kaffee und frage den jungen Mann: "Warum sollte ich unter dem Niveau ihres Hauses arbeiten? Würde Ihnen ein Grund einfallen?" Er schüttelt leicht den Kopf, zieht dabei nuanciert seine Schultern nach oben und lächelt. 60 Minuten sind vergangen. Monsieur Eric von der französischen Botschaft ruft mich an: "Sie können kommen, Frau Marschner." Im Café werde ich herzlich verabschiedet. Jackie und John flankieren mich; und so ist der Transport einer Urne nach Frankreich - in aller Diskretion - ein Weltereignis, das niemand bemerken soll. Das schwere Adlon hat die Leichtigkeit des Seins erfunden - in Berlin.