Die Erblindung in der Transparenz

In meinem Berufsbereich gibt es noch - glücklicherweise - Diskretion und Verschwiegenheit. Es werden allerdings ethische Bereiche touchiert und geschrammt. Die Stadt weicht Datenschutz in einigen Bereichen erfolgreich auf. Fremdfirmen, die in städtischen Krankenhäusern arbeiten, kommen schnell an Daten; noch vor 10 Jahren undenkbar! Hinterbliebene haben, Aufgrund ihrer Nähe zum Verstorbenen, ihrer Nähe zu ihren eigenen Gefühlen, Ihres eigenen gesunden Schamgefühls, ein Bedürfnis nach Schutz, Diskretion und Verschwiegenheit. Bisher habe ich noch keine kompromittierenden Filme oder Fotos im Internet finden können. Schön. Das gefällt mir wirklich gut! Mir fällt im Alltag auf, dass Menschen sich verändert haben. Sie haben die Fähigkeit entwickelt, mit offenen Augen wegschauen zu können. Manchmal sehen sie mich im Supermarkt an; und plötzlich sagen sie: "Sorry. Ich habe Sie gar nicht gesehen." Oft rüffle ich Eltern, die ihre Kinder auf meiner Terrasse spielen lassen. Alle sagten bisher: "Sorry. Wir haben nicht gesehen, dass das ein Bestattungsinstitut ist." Ich nehme das ernst und ich habe darüber nachgedacht. Plötzlich stoße ich auf ein Interview, das die BBC mit Prince Andrew führt. Der Duke of York stellt sich den ruhigen Fragen von Emily Maitlis. Grund für dieses Gespräch ist seine Freundschaft mit Jeffery Epstein. Grund für dieses Gespräch ist die Aussage einer Frau, die sagt, dass sie im Alter von 16 Jahren mehrfach von ihm missbraucht wurde - nachdem Jeffrey Epstein und seine Komplizin sie dafür gefügig gemacht hatten. Es gibt ein Foto, das ihre Bekanntschaft dokumentiert. Sie stehen angekleidet und unverfänglich in einem Raum, Mrs. Maxwell lehnt an einem Türrahmen. Eine bürgerliche Reporterin, völlig ruhig und cool, konfrontiert einen Mann, der mit der Krone lebt, der in einem sicheren Palast aufwuchs. Das ist eine Umgebung voller Regeln, voller Rituale und voller Stilmittel. Sie unterhält sich mit Prince Andrew, der den Umgang mit Hauspersonal kennt, der Butler, um sich herum agierend, gewohnt ist. Das Gespräch dauert 49 Minuten. Am Ende des Gesprächs wünsche ich mir, ich hätte dieses Interview nie angesehen, hätte nie gesehen, wie er durch das Gespräch stolpert. Ich wünsche, ich hätte nie gesehen, wie er dem Aufbau des Gesprächs nach oben folgt, der Reporterin die Krone gibt und dann die ganze Gesprächstreppe nach unten rutscht. Ich war 49 Minuten vorher ganz sicher, dass ein Mann aus einem Königshaus sagt: "Wissen Sie eigentlich wer hier vor Ihnen sitzt? Dieses Foto ist entstanden, weil eine junge Angestellte von Jeffrey Epstein ein Fanfoto mit mir wollte! Sie war außer sich vor Freude, so, wie16-jährige Mädchen ausflippen, wenn sie mich in privaten Häusern sehen! Wie man auf dem Foto sieht, lächelt dieses angekleidete junge Mädchen neben mir! Ich, der Duke, machte Geschäfte mit Mr. Epstein!" Entgegen meiner Erwartung stammelt Prince Andrew spätpubertäre Fragmente: "Ich weiß nicht, wie das Foto entstanden ist." Er kann sich an das junge Mädchen nicht erinnern. Er versucht, eine Aussage des Opfers, die einen Abend mit ihm beschreibt, zu widerlegen. Er kann sich erinnern, dass er an jenem Tag Pizza bestellte! Er erinnert sich deshalb so genau, weil er sonst nie Pizza bestellt. Ich stütze mich auf meinem Schreibtisch ab, biege meine Hand wie einen Mützenschirm über meine Stirn und verdecke meine Augen, weil der Anblick unerträglich ist! Dann wünsche ich mir, er hätte knallhart und eiskalt gelogen, bis sich die Balken im Palast biegen, bis die Gemälde von den Wänden krachen. Der Prinz hingegen hinterlässt nach dem Gespräch den Eindruck, dass eine weltweit gefährliche und monströse Machtelite von Epstein mit Mädchen beliefert wurde. Auf die Frage, wie er auf die Nachricht von Epsteins Tod reagierte, anwortet er: "Ich war geschockt." Kein Mensch ist geschockt, wenn ein Pädophiler Suizid begeht. Er scheint geschockt, weil er sich vorstellen kann, dass mächtige Nutznießer nachgeholfen haben könnten! Er hat Angst, dass andere Täter gefasst werden, die einen vernichtenden Dominoeffekt auslösen könnten. Er scheint geschockt, weil bisher nur ein Foto durch die Weltpresse geht, das ihn unverfänglich mit einer jungen Frau zeigt. Kein Duke hat Angst vor einer Frau, die ihn ohne Beweise beschuldigt! Für das Ausblenden in der Transparenz fehlt mir die Begabung und die Kreativität. Ich vermute, dass mit zunehmender Transparenz auch die gesellschaftliche Erblindung zunehmen wird. Ich befürchte, dass die Transparenz am Peak, wie ein Schal, fallen wird. Eine erblindete Gesellschaft ist dann absolut schutzlos. Prinz Andrew aus dem Palast zeigt nicht einen Hauch von Mitgefühl für diese Mädchen. Er hätte unschuldig sagen müssen: "Dieses nette Mädchen auf dem Foto wurde damals von meinem Geschäftspartner missbraucht? Das ist ja furchtbar. Wie geht es ihr heute? Ich würde sie gerne in den Palast einladen!"