Der freie Wille - gegen das Vergessen

Ich erinnere mich im Alltag, der viel blitzartiger verläuft, als noch vor 25 Jahren, an viele Todesfälle, die ich betreute. Heute erinnerte ich mich an ein Ehepaar, das beschlossen hatte, sein Leben zu beenden. Die hinterbliebenen Töchter standen in einem Zustand, den man mit einem Panicroom vergleichen könnte. Ich musste mit meiner Arbeit beweisen, dass ich keine Einbrecherin war. Ich bekam den Code für die Tür zum Vorraum des Panicrooms ziemlich schnell heraus. Die Töchter erzählten, dass ihr Vater ein erfolgreicher Geschäftsmann war. Ihre Eltern waren glücklich Liebende, die viele Freunde hatten. Sie feierten gern in ihrem Haus. Sie bewirteten gern Freunde mit kulinarischen Spezialitäten. Ihr Vater kam aus armen Verhältnissen. Er baute eine eigene Firma und einen eigenen Status auf. Er war beliebt, weil er begeistern konnte. Ihre Mutter absolvierte ein Kunststudium. Sie promovierte erfolgreich. Sie schrieb, sie malte, sie kreierte; und die Liebe zu ihrem Mann kam auf den ersten Blick. Status kann ihr also nichts bedeutet haben. Sie reisten viel, sie kochten. Er arbeitete viel. Sie gebar die Kinder, kreierte das Haus, den Garten, vielleicht sogar das Leben selbst. Es war ein gutes und glückliches Leben. Die Töchter gebrauchten nie die Worte 'eigentlich' oder 'relativ' oder 'irgendwie'. Die Familie reiste. Die Kinder studierten. Alle waren gesund und munter…bis eines Tages, viele Jahre waren vergangen, die Firma des Mannes in extreme Schieflage geriet. Verlust von Geld. Verlust von Wertvorstellungen. Verlust von Status. Er muss seiner Frau von den Suizidgedanken erzählt haben. Er konnte nicht mehr zurück in die Armut. Ein Job. Eine Monatskarte der BVG. Eine billige Wohnung. Neugierig skeptische Nachbarn, die man im Treppenhaus trifft. Die Frau wollte nicht ohne ihn leben. Zwei Menschen mit so verschiedenen Ansätzen, die einen Nenner finden können. Man fand beide im Wohnzimmer des Hauses, auffallend gut gekleidet - und ineinandergekuschelt auf der riesigen Couchlandschaft. Leere Tablettenpackungen fand die Polizei im Mülleimer. Das Haus, die Eltern, der Abschiedsbrief wurde beschlagnahmt. Die schon damals erwachsenen Töchter wurden nicht beschlagnahmt. Sie stehen vielleicht noch immer fassungslos in ihrem Panicroom. Welcher Elternteil hätte bleiben müssen? Wer trägt die Schuld? Hat der Mann die Mutter überredet? War die Mutter zu bequem geworden? Blendete der Wohlstand die Töchter? Sind sie etwa die Schuldigen? Der freie Wille ist ein ständiger Prozess. Er darf keine moralischen Fragen stellen! Der freie Wille beginnt, baut, kreiert und beendet. Die Moral urteilt nur. Sie sieht die Verpflichtung, die eine Mutter hat. Der freie Wille erzieht Kinder nur nie nach moralischen Entwürfen. Erinnert man Che Guevara unter moralischen Aspekten? Nein! Heute erinnert man sogar einen Mann, der nur Papier und Stift brauchte, um eine Revolution anzuführen. Die Moral urteilt. Der freie Wille nicht. War Ulrike Meinhof eine unmoralische Frau? Selbstverständlich. Sie hatte einen freien Willen. Die Moral sagt: "Es war so schwer für die Kinder." Die Moral erinnert sich nicht einmal daran, dass sie die Kinder nie kannte. Sie spinnt, sie lügt - die Moral. Sie verbuddelt nur den kategorischen Imperativ. Erinnert sich etwa die Moral an die unendlich vielen Mütter, die das Medikament Contagan während ihrer Schwangerschaft einnahmen? Erinnert man sich heute noch daran, dass vielen Kindern, die noch heute leben, körperliches und seelisches Leid angetan wurde? Erinnert sich die große Moral heute an 283 Prozesstage gegen die verantwortliche Pharmafirma? Eventuell an das Urteil? Die Moral stellte das Verfahren ein: "Geringe Schuld der Verantwortlichen". Das Vergessen wird größer und größer, weil die Moralisten mehr und mehr werden. Sie sind nicht fähig. Sie vergessen ständig. Ist die Kanzlerin heute eine unmoralische Frau? Ja! Sie verneint eine Impfpflicht. Vielleicht ist sie ziemlich frei, denn in ihrer Amtszeit wurde sogar die aktive Sterbehilfe legitimiert. Der freie Wille vergisst das Leben nicht. Er ist so unmoralisch, wie der Tod.