Narzissmus und Religion

In meinem Beruf stellte sich stets eine Verdrehung zwischen Kirche und Mensch klar heraus. Als ich den Beruf erlernte, gab es fast ausschließlich männliche Pfarrer. Nicht selten hörte ich in den 90er Jahren, dass der Pfarrer beim Gespräch angetrunken war. Nicht selten sah man bei Trauerfeiern, dass Pfarrer ein durch Alkohol gezeichnetes Gesicht zeigten. Die rotblauen Nasen lösten in der Trauergemeinde keine Empörung aus. Sie lösten ein Fremdschämen aus. Man nahm eine mechanisch wirkende Rede, fahrig und lieblos, eben einfach hin. Man musste einen wankenden Grabgang hinnehmen, denn Kritik an der Kirche bedeutete Kritik an der Religion. Ein Pfarrer, damals auf Augenhöhe mit Richtern, war unantastbar. Er brauchte keine Eigentumswohnung, um Gesetze aushebeln zu können. Die Kirche kann man schlicht nicht auf Schmerzensgeld verklagen. Briefe an Obrigkeiten, Abbilder Gottes, also keine Diener Gottes, versandeten und versanden in einem bürokratischen Nirvana; ein Ort, an dem Menschen Pingpongbälle sind. Heute muss man einen Trauerfall in einem Büro der Kirche melden: "Der Bestatter muss erst den Sterbefall anmelden." Seelsorge, also die Sorge um das Geistreich, spielt hörbar keine Rolle mehr: "Wir brauchen den Bestattungstermin. Der Pfarrer hat viele Termine." In den Büros sitzen Vizegötter. Leicht barsch. Leicht genervt über Irdisches, über Humanes. Die Seele wird zum Perpetuum Mobile! Die Maschine, die ganz ohne Energiezufuhr lebt, wird zu Gottes neuem Werk, denn schuld sind am Ende nicht die Wichtigen, die, wenn man sie endlich wichtig nimmt, nie etwas tun können, weil SIE ja schließlich nur kleine Werkzeuge sind. Narzissmus spaltet am Ende sich selbst auf: Opfer-Täter, Opfer-Star, Opfer-Player… Heute hat die Kirche, auch durch viele Skandale, die öffentlich wurden, einen spirituell schönen Ruf verloren. Sie hat Spirit zertreten. Die Getauften werfen natürlich auch harte Bälle. Sie sitzen natürlich auch in den Medien. Die Bühne der Kirche ist in der Politik zu finden. Die Bruderschaften sitzen nicht in Gotteshäusern. Sie meditieren nicht. Sie beten nicht. Der Totensonntag wird halt ein Sonntag sein. Die Steuern fließen. Die Immobilien sind gut vermietet und stehen immer gut im Kurs. Radio Paradiso hat die weibliche Hauchstimme, die Weisheiten durch den Äther schickt. Elektrische Wellen transportieren Gott. Der Papst könnte bei Let's Dance mitmachen; so, wie Jürgen Fliege eine eigene TV-Sendung hatte. Der Papst könnte sogar ein Hotelzimmer zerlegen. Er könnte die Füße aller Zimmermädchen in Champagnerschalen waschen. Er könnte die Kollekten durch einen Ventilator werfen….Er könnte sogar nach Herzenslust lügen. Er könnte den Pagen als Sünder darstellen, der ihm absichtlich Alkohol in die Minibar stellte. Er könnte den Hotelmanager lauthals und öffentlich als Teufel diffamieren. Er könnte behaupten, der Manager habe ihm am Empfang die Schlüssel überreicht und diabolisch bedrohlich gesagt: "Ihre Zimmernummer, Hochwürden, ist die 6-6-6." Der Papst darf nur nicht das Kreuz umdrehen. Er müsste auch die Bibel im Nachttisch des Hotelzimmers belassen. Die Medien wären begeistert. Vielleicht bekäme die Kirche wieder Zulauf. Der Papst ist ein echter Bro. Der arme Hotelmanager müsste abtauchen, er müsste sich einer Gesichts-OP unterziehen. Jeder Staatsanwalt würde den armen Mann verdonnern müssen. Videos würden sich auf unerklärliche Weise in Luft auflösen; der Rest läge in Gottes Hand. Gil Ofarim hat gelogen. Er hat das beschaulich leise Leben eines Hotelmanagers zwei Jahre lang auf seine schmutzige Bühne gezogen. Er hat einen ihm fremden Mann in sein schmutziges Rampenlicht gezerrt. Das ist narzisstisch. Das ist nicht jüdisch. Er hat es nicht getan, weil er einen Glauben hat. Er hat es getan, weil er keinen Glauben hat. Damit diskreditiert er eine Gemeinschaft, die einen Glauben hat. Er versetzt diese Gemeinschaft völlig unnötig in Angst und Schrecken. Die Jüdische Allgemeine schreibt fast verzweifelt: "Es gibt Antisemitismus in Deutschland." Den gibt es unbestritten! Wir sollten aber nicht in Gil Ofarims Kopf schauen wollen. Er hätte ein Hotelzimmer zerlegen und den Schaden bezahlen sollen. Wir sollten lieber den Hotelmanager mit netter Post erfreuen. Er kann wieder a-t-m-e-n. Er kann endlich wieder sein stilles und feines Leben führen. Seine gequetschte Seele kann sich wieder auseinanderfalten. Mehr hat er nie verlangt!