Christopher Street Day 2022

Zunächst muss ich sagen, dass alle Demonstrierenden unheimlich gut aussahen! Ich bin in eine unfassbare Freundlichkeit eingetaucht, die mir das Gefühl von zuhausesein gegeben hat. Menschen aus allen Nationen wünschten sich einen Happy Pride; junge Menschen boten auf einfachen Pappschildern einen Hug 4 free an. Ich persönlich habe viele Menschen umarmt und muss sagen: Die Demonstrierenden dufteten alle extrem gut. Berührt hat mich die Tatsache, dass Eltern mit ihren Kindern kamen. Ich kann Konservativen und Hardlinern die Sorge von ihren zarten Schultern nehmen. Die Mädchen trugen hübsche Regenbogenkleider. Die Jungs trugen Shorts. Es gibt in der Community also keine psychotischen Eltern, die ihren Söhnen im Schlaf ins Ohr flüstern: "Du willst Kleider tragen…Du wolltest schon immer Kleider tragen…und Perlenketten." Auf einem Plakat stand: Fuck the Gender role. Hier reift eine neue Kultur, die Yohji Yamamoto, japanischer Designer, schon vor langer Zeit auf den Laufsteg brachte. Adidas zum Beispiel hat aktuell ein Sportkleid auf den Markt gebracht, das muskulöse Männer präsentierten. Jason Momoa, der Aquaman, lackiert sich die Fingernägel und bindet seine langen Haare mit gerafft altrosafarbenen Stoffbändern - passend zu seinem roséfarbenen Anzug. Der CSD zeigte ungemein viele sportliche Menschen. Ich hatte den Eindruck, dass sich die Demonstranten auf den CSD vorbereiteten. Sie wollten offenkundig füreinander gut aussehen. Scheinbar ist der CSD immer ein besonderer Anlass - natürlich auch für fantasievolle Kostüme. Leider muss ich aber feststellen, dass viel Alkohol konsumiert wurde. Viele Menschen wollten nicht genießen. Viele Menschen wollten sich die Kante geben. Warum ist das so? Leider muss ich schreiben, dass die Demonstrierenden nicht mehr den Flow haben. Das liegt an der schlechten Organisation, die sich ganz toll findet und das auch in der Süddeutschen Zeitung verkündet. Bayer, Mercedes Benz, Pay Pal, Mastercard, Amazon, FDP, SPD…, die ihre Werbung an den Start brachten, haben den Flow übernommen. Sie schreien es förmlich in die Welt: "Ihr lauft für uns. Ihr tanzt zu unserer Musik. Ihr tanzt nach unserer Pfeife. Ihr könnt nichts ohne uns." Konzerne sind kommerziell. Das ist ihre Natur. Sie gehen einkaufen, wenn sie Kaufkraft wittern. Welche Einnahmen hat also der CSD-Verein, durch Werbebanner, Standmieten, Lizenzverträge, Startkosten Trucks, generiert? Was passiert mit den Einnahmen, nach Abzug welcher Kosten? Vor dem Wagen der FDP stand ein auffälliger Mann im bunten Konfettianzug. Er trug eine Kreissäge von Stetson und eine blaue Fliege. Er sah mich und meine etwas wuchtige Kamera sofort; und er blickte auffallend ernst hinein. Kein Lächeln, kein Zwinkern, keine Mimik. Ich verstand dann ziemlich schnell, dass er eine Fotojournalistin vermutete, die seine Parteikarriere äschern könnte: CSD-Konfetti-Exzesse in Berlin und Champagner-Hochzeiten auf Sylt. Das mutete eigenartig, denn der Truck versprach UNITED und LOVE. Als Journalistin hätte ich eher die beiden aufgepusteten Unicorn-Schwimmringe, die auf dem Truckdach klebten, ins Visier genommen, weil einem Exemplar die Luft ausgegangen war. Warum lassen sich Demonstranten schlicht den Flow nehmen? Wo waren die queeren Unternehmen? Wo war der Quilt, der an die Verstorbenen erinnerte? Eine junge Frau machte auf den Tod vieler Frauen in Italien aufmerksam, die im Jahr 2022 zu Tode gebracht wurden. Sie trug ein einfaches Schild aus Pappe, an das sich niemand erinnern wird. Das ist bedauerlich.